„Gestohlene Wahlen“: Guatemala ohne Hoffnung auf demokratischen Wandel

Analyse

Am Sonntag, den 25.6. finden in Guatemala Präsidentschafts- Parlaments- und Kommunalwahlen statt. In den vergangenen Monaten wurden auf der Basis arbiträrer Entscheidungen der Obersten Wahlbehörde gezielt Oppositionskandidat*innen mit Reformabsichten von der Kandidatur ausgeschlossen. Der sogenannte Pakt der Korrupten, der sich aus korrupten Politiker*innen und Unternehmer*innen, kooptierten Richter*innen und Staatsanwält*innen und kriminellen Netzwerken zusammensetzt, bestimmt auch den Ausgang der Wahl.

indigene Menschen protestieren zusammen

Wenn am 25.6. die knapp 9,4 Millionen Wahlberechtigten an die Urnen gerufen werden, können sie zwischen 22 Präsidentschafts- und Vizepräsidentschaftskandidat*innen auswählen. Fast 30 Parteien haben Kandidat*innen für Parlaments- und Kommunalwahlen aufgestellt. Dennoch sind die Chancen, dass sich die Stimmen der Wähler*innen in dringend notwendige Reformen, gestärkte rechtsstaatliche Prinzipien und Korruptionsbekämpfung umsetzen, gering. Dies liegt daran, dass die Vielzahl der Kandidat*innen keine Vielfalt politischer Programme mit Reformwillen bedeutet. Die überwältigende Mehrheit der Kandidat*innen vertritt die Interessen des korrupten politischen und ökonomischen Establishments, das sich nach dem Ende des Mandats der Internationalen Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) wirkungsvoll reorganisiert hat.

Die Kooptation der Justiz

Ähnlich wie die Nachbarländer Nicaragua und El Salvador durchläuft Guatemala derzeit eine schwerwiegende demokratische Krise. Seit der damalige Präsident Jimmy Morales Ende 2019 die CICIG des Landes verwies, ist es dem Pakt der Korrupten gelungen, rechtsstaatliche Garantien der Gewaltenteilung zu untergraben und den Justizapparat gleichzuschalten. Zwar wurden, anders als in Nicaragua, die Oppositionskandidat*innen nicht im Vorfeld der Wahlen verhaftet. Auch wurden nicht – wie gerade im Nachbarland El Salvador – 80% der zur Wahl stehenden Ämter in Parlament und Kommunen kurz vor den Wahlen durch Reformen gestrichen. Die Verzerrung des Wahlprozesses erfolgt über eine eher atypische Betrugsart, mittels arbiträrer Entscheidungen der Obersten Wahlbehörde, im Einklang mit weiteren Gerichten, die für die Zulassung von Parteien und Kandidat*innen und den ordnungsgemäßen Ablauf der Wahl zuständig sind. Zentrale Instanzen des Justizsystems sind inzwischen mit Amtsträger*innen besetzt, die nicht autonom agieren, sondern auf der Basis von partei- und machtpolitischem Kalkül und wechselseitigen Gefälligkeiten. Auf dem jüngsten Korruptionsperzeptionsindex von Transparency International erhält Guatemala 24 von insgesamt 100 Punkten und gehört inzwischen zu den 30 Ländern, mit den weltweit höchsten Korruptionsraten. Laut Human Rights Watch befinden sich derzeit acht Staatsanwält*innen in Haft, mehr als 30 Antikorruptionsermittler*innen sahen sich gezwungen, ins Exil zu gehen.

Drastische Einschränkungen der Pressefreiheit und des Rechts auf Information

Auch die Repressionen gegen die autonome Presse haben zugenommen. Nach dem Index von Chapultepec, der die Pressefreiheit auf dem amerikanischen Kontinent misst, nimmt Guatemala inzwischen Platz 19 von 22 Ländern ein. Lediglich in Venezuela, Kuba und Nicaragua schneiden schlechter ab. Gegen mehrere Journalist*innen wurden strafrechtliche Ermittlungen mit eindeutig politischer Motivation eingeleitet. So auch gegen Rubén Zamora, den Herausgeber des inzwischen geschlossenen El Periódico, der Korruption auf höchster Staatsebene untersucht hatte und am 14. Juni zu einer sechsjährigen Haftstrafe wegen angeblicher Geldwäsche verurteilt wurde. Der guatemaltekische Journalist*innenverband meldete für das Jahr 2022 mehr als 100 Fälle von Angriffen, Verfolgung und Kriminalisierung von Medienschaffenden und fast 400 seit dem Beginn der Amtszeit von Präsident Giammattei im Jahr 2020. Eine unabhängige Berichterstattung über die Wahlen ist mit hohen Risiken für die Journalist*innen verbunden, Selbstzensur eine häufige Folge. Aufgrund der Einschränkung der Pressefreiheit wird vor allem auch das Recht der Wähler*innen verletzt, sich umfassend und unabhängig zu informieren.

Die Oberste Wahlbehörde, nicht die Wähler*innen entscheiden über die Chancen von Reformkräften

Die Oberste Wahlbehörde (TSE) hat drei Präsidentschafts- und ihre jeweiligen Vizepräsidentschaftskandidat*innen sowie mehr als 3.800 Kandidat*innen für die Parlaments- und Kommunalwahlen aus dem Rennen geworfen. Der Ausschluss von Kandidaturen aufgrund fadenscheiniger Kriterien galt vor allem dem linken, progressiven Spektrum, beschränkte sich aber nicht darauf. Die Gemeinsamkeit der drei vom TSE ausgebremsten Präsidentschaftskandidat*innen ist nicht ihre ideologische Nähe, sondern die Tatsache, dass sie den drei Favorit*innen des Paktes der Korrupten gefährlich werden konnten. Erstes Opfer war Thelma Cabrera, die populäre indigene Präsidentschaftskandidatin des Movimiento para la Liberación de los Pueblos (MLP), die bei den letzten Wahlen den vierten Platz belegt hatte und mit ihren Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit und der Einrichtung eines plurinationalen Staates beachtliche Erfolge in Wahlkreisen mit einem hohen Anteil indigener Bevölkerung erzielen konnte. Kaltgestellt wurde aber auch der konservative Unternehmer Roberto Arzú, der mit Unterstützung der Partei Podemos in den Wahlkampf ziehen wollte. Der Sohn des Ex-Präsidenten Álvaro Arzú Irigoyen, hatte sich den Zorn des Paktes der Korrupten zugezogen, da er mit einem anti-oligarchischen Diskurs und dem Versprechen, die Korruption zu bekämpfen angetreten war. Am 19. Juni wurde dann auch die Kandidatur des Unternehmers Carlos Pineda gemeinsam mit seiner Partei Prosperidad Ciudadana von der Obersten Wahlbehörde verboten, just in dem Augenblick als er nach einer erfolgreichen Kampagne in den sozialen Netzwerken die Meinungsumfragen anführte.

Die überwältigende Mehrheit der verbleibenden Präsidentschaftskandidat*innen entstammen dem gleichen wertekonservativen ideologischen Spektrum. 18 der 22 Kandidat*innen für das oberste Staatsamt haben erklärt, im Falle ihres Wahlsieges keine Gesetzesinitiativen zur Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und zur Legalisierung der Ehe gleichgeschlechtlicher Partner*innen zu fördern. Obwohl der Anteil der indigenen Bevölkerung bei 42% liegt, gibt es nur einen Präsidentschaftskandidaten indigener Herkunft, Amílcar Pop, der vom progressiven Wahlbündnis URNG-Maiz Winaq unterstützt wird. Lediglich zwei Frauen beteiligen sich am Wettbewerb um das höchste Staatsamt.

Manuel Conde, Zury Rios und Sandra Torres: das Trio des Paktes der Korrupten

Der Rechtsanwalt und Kongressabgeordnete Manuel Conde kann zwar auf die Unterstützung des amtierenden Staatspräsidenten Giammattei und die Regierungspartei Vamos bauen. Trotz des privilegierten Zugangs zu Geldern für die Wahlkampagne stehen die Chancen des blassen Kandidaten bisher schlecht. Laut Meinungsumfragen evaluiert gerade einmal ein Viertel der Bevölkerung die Leistungen der aktuellen Regierung als gut oder akzeptabel, lediglich vier Prozent der Wähler*innen haben die Absicht, den Kandidaten der Regierungspartei zu wählen. Ob Giammatteis Kampagne der Kooptation von Stimmen auf Gemeindeebene mittels Last-Minute Infrastrukturprojekten erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten. Dagegen führt derzeit Sandra Torres mit 23% der Wähler*innenpräferenzen, in ihrem nunmehr vierten Anlauf auf das höchste Staatsamt. Die ehemalige First Lady und dreimalige Präsidentschaftskandidatin für die Partei Unidad Nacional de Esperanza wird vom ehemaligen Rivalen der Patriotischen Partei, evangelikalen Pastoren und politischen Akteuren unterstützt, gegen die wegen ihrer Nähe zum organisierten Verbrechen ermittelt wird. Präsidentschaftskandidatin Zury Ríos, die jüngste Tochter des früheren Diktators General Efraín Ríos Montt, hat sich nie von den Verbrechen des Vaters distanziert, der wegen Genozides am Volk der maya ixil zu 80 Jahren Haft verurteilt worden war. Im Gegenteil, sie hat ihn vor Gericht begleitet und begrüßt, dass das Urteil vom Verfassungsgericht kassiert wurde. Nicht zuletzt deshalb ist Ríos die Präferenzkandidatin eines beträchtlichen Teils der militärischen und ökonomischen Elite des Landes. Ihr Beraterkreis besteht aus Anwälten des verstorbenen Vaters, Alliierten des konservativen Ex-Präsidenten Alvaro Arzú und ehemaligen Funktionär*innen der Regierung von Jimmy Morales, denen eine Protagonistenrolle bei der Abwicklung der CICIG zukam. Getragen wird ihre Kandidatur von der Parteienkoalition Valor Unionista.

Edmond Mulet, der „Kandidat des geringeren Übels“

Als einzig ernstzunehmender Kandidat, mit Chancen in die Stichwahl am 20. August zu gelangen, ist noch der ehemalige UN-Diplomat, Edmond Mulet, im Rennen. Er gilt als moderat konservativ und verspricht seinen potentiellen Wähler*innen einen Neubeginn. 2019 war er bereits für die Humanistische Partei in den Präsidentschaftswahlkampf gezogen und hatte mit 11% der Stimmen im ersten Wahlgang den dritten Platz belegt. Von seiner anfänglichen Kritik an der Krise der Institutionen und an der Verfolgung von Antikorruptionsermittler*innen und unabhängigen Journalist*innen, ist aber nicht mehr viel übriggeblieben, seit ihn Staatsanwalt Rafael Curruchiche aufgrund der öffentlichen Unterstützung für Rubén Zamora der „Verschwörung zur Behinderung der Justiz“ bezichtigt.

Die Gewinner*innen der Wahl stehen bereits fest, bevor die Wähler*innen an die Urnen gehen

Anders als 2015, als die Korruptionsskandale der Regierung Otto Pérez Molina zu Massendemonstrationen geführt hatten, gibt es bisher keinen breiten Protest gegen die skandalöse Manipulation des Wahlprozesses. Die Angst vor staatlicher Repression ist hoch, aber auch die Frustration aufgrund des Ausschlusses von Reformkandidat*innen. Fast 2,6 Millionen potentiell wahlberechtigter Bürger*innen können nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen, da sie sich nicht nicht in die Wahlregister eingeschrieben haben. Besorgniserregend ist, dass es dabei hauptsächlich um Jungwähler*innen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren handelt. Anscheinend haben besonders junge Guatemaltek*innen keine Hoffnung mehr, dass das Wahlergebnis und ihre Stimmen einen Unterschied machen. Viele sehen den einzigen Ausweg in der Migration.

Trotz des düsteren Kontextes gibt es jedoch nach wie vor eine beträchtliche Anzahl von Bürger*innen, die – wie die Meinungsumfragen zeigen - rebellisch geblieben sind und durchaus zwischen korrupten und reformbereiten Politiker*innen zu unterscheiden wissen. Inwieweit diese Stimmen ausreichen, um in dem extrem fragmentierten Parteienspektrum die Wahl von reformbereiten Kandidat*innen auf Parlaments- und Gemeindeebene zu sichern, ist eine offene Frage. Der guatemaltekische Politiker und ehemalige Innenminister Carlos Menocal fürchtet, dass die Wahlen durch eine "bemerkenswerte Beteiligung von Politikern“ gekennzeichnet sein werden, „die mit dem Drogenhandel verbunden sind“, insbesondere beim Wettbewerb um die Bürgermeisterämter der Gemeinden in den Grenzgebieten. Egal ob und wo die knapp 9,4 Million Wahlberechtigten am 25.6. ihr Kreuz machen, die eigentlichen Gewinner der Wahl stehen bereits fest.


Mitschnitt vom 25. Mai 2023
Guatemala: Wahlen ohne Wahl
Regiert der "Pakt der Korrupten" weiter?

Guatemala: Wahlen ohne Wahl - Heinrich-Böll-Stiftung

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